Claudia von Collani
Einführung
Schon der französische Sinologe Paul Pelliot (1878–1945) beschrieb das Werk Tianxue benyi 天學本義 (Der ursprüngliche Sinn der Himmelslehre, im Folgenden TXBY) als „l’ouvrage qui fit grand bruit et soulera des tempêtes ...“. Wie kam Pelliot zu diesem Urteil? Zum einen entstand das TXBY in einem Umfeld, das für die Missionare zu diesem Zeitpunkt besonders wichtig war, nämlich am chinesischen Kaiserhof unter Kaiser Kangxi, zum anderen geriet die Schrift in die Auseinandersetzung um die chinesische christliche Terminologie, die während und durch die Gesandtschaft des päpstlichen Legaten Charles-Thomas Maillard de Tournon (1668–1710) an den chinesischen Kaiserhof auf ihren Höhepunkt zuging. Zudem ist die Entstehungsgeschichte des TXBY besser dokumentiert als die der meisten christlichen Texte in China, mehr auch als die des christlichen Klassikers in China schlechthin, nämlich Matteo Riccis (1552–1610) Buch Tianzhu shiyi 天主實義. (Der wahre Sinn des Herrn des Himmels). Das TXBY bedeutete aber auch das Ende der klassischen Akkommodation der Jesuiten infolge des Ritenstreits.
1. Die frühneuzeitliche Chinamission
Die etwa zweihundert Jahre Chinamission der frühen Neuzeit gehört zu den interessantesten Kapiteln der Missionsgeschichte überhaupt, stellte sie doch eine in dieser Zeit völlig ungewöhnliche Herausforderung für die europäische Kultur und für das Christentum dar. Wollte man in China das Christentum verbreiten, so musste man dabei dem chinesischen Kulturimperativ Rechnung tragen. China wollte und brauchte nichts von anderen Kulturen und Nationen, denn es ließ sogar nur das gelten, was schon seit langer Zeit in der chinesischen Kultur vorhanden war. So war einer der sicher häufig von den Missionaren gehörten Vorwürfe, dass das Christentum ganz neu, fremd und nicht chinesisch sei, ein Vorwurf, den auch der Kangxi 康熙-Kaiser (1654–1722, reg. 1661–1722) erhob. Teilweise konnte dieser Vorwurf durch den Fund der fast tausendjährigen Nestorianerstele von Xi’an über die Verbreitung einer frühen Form des Christentums in China entkräftet werden, teilweise suchten die Missionare, angefangen von Matteo Ricci, nach Anknüpfungspunkten, um zu zeigen, dass die chinesischen klassischen Bücher eigentlich bei richtiger Interpretation eine Vorbereitung auf das Christentum seien. In seinem berühmten Werk Tianzhu shiyi, das in Form eines Dialogs zwischen einem christlichen, westlichen und einem nichtchristlichen, chinesischen Gelehrten geführt wird, präsentierte Matteo Ricci Zitate aus den klassischen Büchern, die zeigen sollten, dass der eine, wahre Gott unter den Namen Tian 天 oder Shangdi 上帝 schon in alter Zeit in China bekannt gewesen war. Dieser Urmonotheismus, so die These Riccis und seiner Nachfolger, wurde später durch die Ankunft der abergläubischen Religion des Buddhismus verdorben, wodurch die ursprüngliche Reinheit des chinesischen Gottesglaubens in Vergessenheit geriet.
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