Mark McLeister
Einleitung
Seit dem Führungswechsel an der Spitze des chinesischen Staates in den Jahren 2012 und 2013 legt die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) zweifelsohne erneut den Schwerpunkt auf die Ideologie, mit dem Ziel, die Regierungskapazitäten zu stärken durch die Verbesserung der Beziehung zwischen der obersten Führung und den Mitgliedern [der Partei], die Stärkung der Verbindung zwischen der Gesellschaft und der obersten Führung sowie durch das Bestreben, die dominierende Stimme unter den vielen Narrativen innerhalb der KPCh und in der Gesellschaft im weiteren Sinne zu werden (Mittelstaedt 2023). Infolgedessen gibt es in der Volksrepublik China seit 2018 sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene signifikante Veränderungen bei der Religionspolitik und der staatlichen „Verwaltung“ der christlichen Kirchen.
Natürlich war die Behandlung der Religion seitens der KPCh immer schon ideologisch untermauert, aber wie Wissenschaftler festgestellt haben, wurde die ideologische Grundlage für die Religionspolitik durch eine pragmatische Ausrichtung bei ihrer Umsetzung abgemildert (Cox 2007, S. 374; Hetmanczyk 2015, S. 168). Schon vor 1949 war die KPCh bereit, bei ihrer Einheitsfrontarbeit pragmatisch vorzugehen und mit religiösen Gruppen zusammenzuarbeiten, um „Herzen und Köpfe zu gewinnen“. Ein entscheidender Aspekt bei der Analyse des Umgangs der KPCh mit der Religion ist das Spannungsfeld zwischen Ideologie und Pragmatismus auf nationaler und lokaler Ebene. Wir können die Religionspolitik der KPCh in der Tat durch diese doppelte Linse von Ideologie und Pragmatismus betrachten, wobei jeweils zu bestimmten Zeiten seit 1949 offensichtlich die eine gegenüber der anderen Vorrang hatte. Dies wird weiter verstärkt durch den pragmatischen Ansatz der KPCh gegenüber dem Recht und der Rechtsdurchsetzung, da das Recht „als Mittel zur Erreichung des einen oder anderen Ziels und nicht als Wert an sich, der zur sozialen Ordnung beiträgt, gewertet wird“ (Sheehy 2006, S. 243, siehe auch Schak 2020, S. 213). Wir sollten aus diesem Grund die Rolle des Pragmatismus in der derzeitigen ideologisch aufgeladenen Atmosphäre nicht außer Acht lassen.
In diesem Beitrag, der sich in erster Linie auf die Drei-Selbst-affiliierten protestantischen Gemeinden in einer einzigen Stadt in China konzentriert, werde ich darlegen, dass es trotz einer Verschärfung der Politik und der rechtlichen Kontrollen gegenüber den protestantischen Kirchen in einem verschärften ideologischen Milieu immer noch ein gewisses Maß an Pragmatismus bei der Umsetzung der Politik und der rechtlichen Kontrollen an der Basis gibt, so dass die Kirchenführer und ihre Gemeinden weiterhin einen gewissen Spielraum haben, ihre eigenen Ziele zu definieren und zu verwirklichen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst einen kurzen Überblick über meine Forschungsmethoden und meinen Untersuchungsort Huanghaicheng1 geben. Anschließend werde ich einen Überblick und eine Analyse einiger der wichtigsten Veränderungen in der Herangehensweise des Staates im Umgang mit Religion in China vornehmen, wobei ich mich speziell auf die Drei-Selbst-affiliierten Gemeinden der Stadt und ihre Reaktionen auf diese Veränderungen konzentriere. Ich schließe mit einigen Beobachtungen zur Art der Interaktionen zwischen Kirche und Staat in den letzten Jahren ab.
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